Zen und Psychotherapie
„…du lachst und weinst und gehst an dir zugrund, was soll dir noch geschehen – Erklär mir, Liebe!“ (Ingeborg Bachmann)
Diese Gedichtzeile umreißt, was sowohl in der Psychotherapie als auch durch die Zen-Praxis möglich sein kann. Nüchtern formuliert: Du freust dich. Du leidest. Du gibst dein Ich auf. Und dann bist du (angst-)frei. Um gleich vorab Missverständnisse auszuräumen: Mir geht es nicht um irgendeinen Ich- oder Selbst-losen Zustand, wir wissen wie leidvoll der Strukturverlust für Psychotiker sein kann. Mir geht es um das Überwinden der Fixierung auf inadäquate Verhaltensweisen, Symptome im Dienste der Abwehr, die einmal sinnvoll waren, die sich aber mit dem Lebensfluss nicht mitbewegt haben. Diese erzeugen Leid. Nehmen wir Gedankenkreisen, Grübelzwang, Sucht, somatoforme Schmerzen, dysfunktionale Verhaltensweisen, Machtkämpfe in Beziehungen, das alles sind doch Anpassungs- bzw. Bewältigungsversuche, die vielleicht irgendwann die Person stabilisiert und dann in die Irre geführt haben und nun den Leidenden in der Irre festhalten. Kein Ich-Selbst ist damit glücklich.
Psychische Erkrankungen sind „Passungsstörungen“ zwischen Ich-Selbst und seiner wahrgenommenen Um-Welt. Ist nicht Leiden, das zur buddhistischen Praxis führt, auch eine solche „Passungsstörung“? Schmerz oder Frust oder Unbehagen und der Wunsch, etwas möge anders sein als es ist? Und wie kann man sich auch passend fühlen in einer Welt aus Bluff, Pokerface und Powerplays oder gar Ausgrenzung, Unterdrückung, Grausamkeit und Gewalt?
Wie kommt der Mensch aber in die Akzeptanz der Zumutung dessen, was wir Leben nennen? Und in die Kraft, das Notwendige zu tun?
Wenn ich so an die Sache herangehe, bemerke ich mehr Gemeinsamkeiten zwischen beiden Arbeitsfeldern. Geht es im therapeutischen Kontext vielleicht um innerlich empfundenes Nicht-richtig-sein oder klassisch Nicht-gut-genug-sein (meist aus vergeblichen Anpassungsversuchen gegenüber den Eltern heraus), so kann die innere Zwiespältigkeit auch die Zen-Praxis befeuern im Sinne der Suche nach meiner wahren Natur. Dabei erfordert der therapeutische Weg z.B. das Aufgeben von dysfunktionalem oder gar destruktivem Verhalten. „Hintertüren schließen, Vordertüren öffnen“. Also Altes aufgeben, desidentifizieren, Platz für Neues schaffen. Oder Konflikte klären. Und schließlich geht es in der Therapie um die Förderung bzw. Nachreifung einer gut integrierten Struktur, die innerhalb ihrer Grenzen schon eine bessere Passung und weniger Leiden vermittelt. Dies ist nichts anderes als wirklich erwachsen zu werden.
Das Ersetzen dysfunktionalen Verhaltens durch funktionaleres wird uns im Zen aber nicht länger interessieren oder erschöpft sich. Die Welt ist wie sie ist, ich kann mich nur anders auf sie beziehen. Die radikale Erkenntnis ist: Die Quelle allen Leidens ist der Daseinsdurst. An alles Neue, Frische, Gesündere, Passendere werde ich wieder anhaften, obwohl und weil alles in Bewegung ist und es die allgemein-gültige endlich vollkommene, mein Leben sichernde Struktur eben nicht gibt. Dies akzeptierend stellt sich die Frage nach dem, wie die Dinge wirklich sind. Und je mehr davon durchscheint aus tief empfundener Verbundenheit wird mein ganzes Leben, Denken, Fühlen, Handeln alles und alle mit einschließen. Geht es darum, immer umfassender wahrzunehmen und eine angemessene/passende/bestmögliche Antwort geben. Zum Wohle des Ganzen. Einerlei ob Schweigen, Rede oder Handlung.
Ein anderer Ansatz: Gemeinsam ist beiden Zugangswegen der Wunsch nach Leidensfreiheit. Dukka = Leiden, heißt, dass das Rad nicht in der Achse rollt bzw. nicht ausgewuchtet ist. Leiden hört auf, wenn wir eine Ordnung herstellen.
Psychotherapie rückt Dinge zurecht. Hilft das zu verdauen, wofür du die Präsenz der Eltern gebraucht hättest oder was dich einmal überflutet hat. Heißt annehmen. Aber auch entgiften, dich mancher Dinge entledigen, die wie Fremdkörper in dir stecken. Also ordnen. Verwickeltes lösen, Getrenntes verbinden ist auch Ordnen. Die Veränderung in Richtung Ordnung entbindet (bzw. weckt) manchmal ein so hohes Maß an Angst, dass der Klient dem Prozess in Richtung Lösung Widerstand entgegensetzt. Aber das Festhalten hat seinen Preis. Willst du die Veränderung zum vollen Preis? Oder Stagnation? Vergebung zum vollen Preis oder Nicht-Vergebung zum vollen Preis? Der Gewinn ist Selbstwirksamkeit. Du kannst dich entscheiden. Der Preis der Wahl ist die Verantwortung.
Mit Zazen bringen wir unseren Körper in eine Ordnung. Diese Ordnung wirkt. Ich richte mich auf – und Himmel und Erde kommen an ihren Platz. Alles zwischen Himmel und Erde kommt an seinen Platz. Sogar zeitlich, in einer persönlichen Geschichte, kommt alles an seinen Platz. Ordnung schaffen heilt. Die Frucht der Zen-Praxis ist eine radikalere Wahl: Nehme ich das Leben zum vollen Preis? Nehme ich den Tod zum vollen Preis? Nehme ich Erleuchtung zum vollen Preis? Und das immer wieder – jetzt. Immer wieder neu Antwort geben.
Und hier wird es spannend.
Man könnte meinen, die meisten Therapierichtungen betonen das Dasein, Wachstum, Entwicklung, Reifung, Eigenständigkeit usw. Buddhistische Schulen betonen das Nicht-Sein, die Leerheit wie wir ja täglich rezitieren: Nicht Auge, nicht Ohr,… Der Buddhismus schenkt uns die Erfahrung dessen was hinter dem Leben ist und lässt das Leben auf seine eigentliche Weise aufleuchten. Gefragt ist aber fortan immer wieder beides: Oszillieren zwischen Identifizieren und Desidentifizieren, Vordergrund und Hintergrund, zwischen Sein und Nicht-Sein. Ich bin so frei wie ich mich lasse. Sein lasse und Nicht-Sein lasse. Nur wenn ich ganz Mensch bin – und folglich verletzlich – kann ich einem Menschen in Liebe begegnen als Voraussetzung für meine therapeutische Arbeit. Muss ich also ein Stück „unerschütterlichen Geist“ hergeben, um zu fühlen was der andere fühlt und um ganz da zu sein. Und es hilft, wenn ich an ein Stück „unerschütterlichen Geist“ angeschlossen bin, um mich einlassen zu können auf den Schrecken und die Schmerzen, die manche Klienten verarbeiten müssen, und um in der Intensität dieser Gefühle den nötigen Raum halten zu können.
04.04.2019 Heike Esser